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Freizeit
15.03.2020
06.05.2022 15:10 Uhr

Eine Familie hält zusammen

Cornelia (links) und Priska mit Begleithund Iron und den Eltern Karin und Rico Cia.
Cornelia (links) und Priska mit Begleithund Iron und den Eltern Karin und Rico Cia. Bild: Heidi Peruzzo
Die Familie Cia aus Buttikon hat ein spezielles Schicksal. Beide Töchter leiden an einer unheilbaren Erbkrankheit und haben eine massiv verkürzte Lebenserwartung.

Es ist Feierabend, Familie Cia sitzt am Esstisch. Mutter Karin, Vater Rico, die 24-jährige Priska und die 21-jährige Cornelia. Der Golden Retriever Iron sitzt an Priskas Rollstuhl gelehnt, zwei Katzen streichen um die Wohnung. Die Familienidylle trügt, obwohl eine ansteckende Fröhlichkeit zu spüren ist. Die beiden jungen Frauen leiden seit Kindheit an Morbus Sandhoff juvenil, einer Gendefekt-Krankheit, bei der die statistische Lebenserwartung gerade mal 15 Jahre beträgt. «Weltweit sind zwölf Fälle von dieser Form der Krankheit bekannt, zwei davon betreffen unsere Mädchen», erzählt Vater Rico. «Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Kind zu bekommen, ist in etwa gleich hoch wie ein Lottosechser», ergänzt er. «Wir haben sogar zwei davon.» Alle am Tisch schmunzeln.

Konrad Sandhoff, welcher 1968 die Krankheit entdeckt hat und ihr auch den Namen gab, gibt heute der Familie Cia keine Lebenserwartungs-Prognose mehr ab, sondern spricht von einer massiv verkürzten Lebenserwartung. «Wir haben in all den Jahren bereits so viel gehört, wir schätzen einfach alles, was noch möglich ist», sagt Karin Cia. «Es ist ganz klar, die Gesundheit von unseren Mädchen geht stetig bergab. Für unsere Kinder wird es wahrscheinlich nie Heilung geben. Aber wir leben im Hier und Jetzt und sind dankbar für jeden zusätzlichen Tag, den wir gemeinsam erleben dürfen.»

Die aktuelle Panikmache um das Coronavirus kann die Familie nicht nachvollziehen. Für Priska und Cornelia kann bereits eine simple Grippe lebensbedrohlich sein. «Mit dieser Angst leben wir schon seit vielen Jahren. Bei Fieber über 38 Grad wird die Zellfunktion beeinträchtigt, was bleibende Schäden zur Folge hat. Das Coronavirus ist somit nur ein weiteres Risiko in unserem Leben», so die Eltern.

Mutter Karin hat schon im ersten Jahr nach Priskas Geburt gespürt, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt. Bei Arztbesuchen wurde sie auf unterschiedliche Entwicklungsphasen hingewiesen und vertröstet. Körperlich hinkte Priska im Vergleich mit anderen Kindern immer mehr hintennach, sie stürzte immer häufiger. Mit drei Jahren wurde festgestellt, dass sie bereits die Intelligenz einer Fünfjährigen besitzt. «Das ist das Spezielle an Priska und Cornelia: Beide Mädchen entwickelten eigene Strategien, um ihre Defizite zu überbrücken, so kamen sie immer auf ihre eigene Art weiter», erinnert sich die Mutter. Erst im fünften Lebensjahr war auch dem Kinderarzt klar, dass etwas nicht stimmt. Da es sich um eine sehr seltene Krankheit handelt, ging es nochmals ein halbes Jahr, bis die Diagnose «Morbus Sandhoff juvenil» gestellt wurde. «Für mich war das eine sehr quälende Zeit, ich war stundenlang am Computer am Recherchieren, was mit Priska los ist. Mir ging es psychisch so schlecht, dass ich sogar Lähmungen bekam», erzählt Karin Cia. Der definitive Befund war zuerst einmal ein riesiger Schock für die Eltern, danach kam sehr viel Trauerarbeit bei Karin. Rico versuchte noch länger, die Situation zu verdrängen.

Zu dieser Zeit war die drei Jahre jüngere Cornelia bereits auf der Welt. Ein gesundes und fröhliches Kind. Erst im Kindergartenalter machten sich auch bei ihr erste Anzeichen der Krankheit bemerkbar. Ein harter Schlag für das Elternpaar. Karin Cia kann sich noch an den Moment erinnern, als sie den definitiven Bescheid für Cornelias Krankheit bekam. «Ich lag in meinem Bett, Cornelia kuschelte sich zu mir und fragte, warum ich so traurig sei.» Ich erklärte ihr, dass sie die gleiche Krankheit wie ihre Schwester hat. «Kann ich dann auch nicht mehr richtig sprechen wie Priska? Kann ich bald auch nicht mehr selber laufen?» Karin nickte. Cornelia ging aus dem Zimmer und kam nach ein paar Minuten mit einem Prospekt für Rollstühle zurück, welcher im Büro lag. «Dann möchte ich diesen roten Rollstuhl, Mami.»

Diese positive Einstellung zu ihrem Schicksal haben die beiden Mädchen bis heute beibehalten. Vor allem Cornelia strahlt sehr viel Lebensfreude aus, ihr Lachen ist echt und ansteckend. Sie kann sich auch noch sehr gut verständigen und erzählt gerne von ihrem Alltag. Früher besuchten die Schwestern die Heilpädagogische Schule in Freienbach. Seit sie erwachsen sind, gehen sie unter der Woche nach Wangen ins Höfli. Cornelias motorische Fähigkeiten sind noch recht gut, sie arbeitet sehr gerne in der Werkstatt. Momentan ist sie am «Stüpferle», sie sticht mit einer Nadel Blumen aus farbigen Karton aus. Diese werden an die Wände gehängt oder es entstehen schöne Geschenkkarten.
Für Priska geht das nicht mehr, sie wird im Aktivierungsraum betreut, macht mit beim Spielen, Singen oder Malen. «Das Höfli ist ideal für uns, die Mädchen bekommen auch regelmässig Unterricht von einem Lehrer», erklärt die Mutter. Sie bringt die Schwestern jeden Morgen nach Wangen und holt sie am Abend wieder ab. «Zum Glück sind Rico und ich ein sehr gutes Team, wir beide sind Familienmenschen und ergänzen uns. Immer wenn einer von uns nicht mehr weiter kann, übernimmt der andere.» Schichtwechsel nennen sie das in der Familiensprache.

Für Familie Cia ist auch sehr wichtig, dass sie auf ein gutes Umfeld zählen darf und von vielen Seiten Unterstützung erhält. Seit die Mädchen erwachsen sind, erhalten sie eine Vollrente. Die Rollstühle sind von der IV bezahlt. Einzig die Regelung mit der Arbeitszeitentschädigung für Betreuungsgutschriften benachteiligt Familien, die ihre erwachsenen Kinder privat betreuen. In ihrem Fall muss für Arzt- oder Spitalbesuche Vater Rico seine Ferientage drangeben, wenn er die Mädchen begleiten will. «Das ist schade», so Rico Cia. «Wären sie in einem Heim, würde der Arbeitsaufwand verrechnet.»

Gibt es auch mal Ferien nur für die Eltern? Diese Frage scheint in ein Wespennest zu stechen, am Tisch wird lebhaft diskutiert: Rico schaut erwartungsvoll zu seiner Frau rüber, Priska gestikuliert wild mit den Händen und Cornelia bringt es auf den Punkt: «S’Mami kneift!» Beide Mädchen versichern, dass sie sich freuen würden, wenn sich die Eltern einmal Urlaub für sich gönnen würden. Karin winkt ab. Letztes Jahr war sie mit Rico für drei Tage auf einer Männerriegenreise. «Es war sehr umständlich und aufwendig, alles zu organisieren». Die Spitex und zwei Entlasterinnen mit Ehemännern waren in dieser Zeit für die Mädchen da. «Ich weiss aber aus Erfahrung, dass Cornelia sich nicht bei den Betreuerinnen meldet, wenn es ihr schlecht geht. Das beunruhigt mich dann die ganze Zeit und ich mache mir Sorgen.»

Dafür geniessen die Vier, respektive Fünf, denn Iron, der Begleithund und beste Freund der Mädchen, ist immer mit dabei, die gemeinsamen Familienferien. In den Sommerferien geht es immer nach Südfrankreich ans Meer. Und bei der Aufzählung, wo Familie Cia schon überall zusammen gewesen ist, kommt man glatt ins Staunen. Cornelia zählt auf: Rom, Paris, Berlin, Budapest, Amsterdam, Wien, Hamburg und noch einige andere Städte in Europa. «Unsere Reisen verlaufen nie glatt, es passiert immer etwas Unvorhergesehenes», erzählt Karin Cia. Meistens fängt es bereits im Flugzeug an, weil eine Buchung mit Platzreservation von zwei Rollstühlen inklusive einem Begleithund bei Fluggesellschaften nicht üblich ist. «Wir steigen immer zuerst ein, doch wenn ein Passagier zusteigt und sich als Hundehaar-Allergiker meldet, müssen wir wieder aussteigen.» Auch das Reisen im Zug erfordert von den Eltern einiges an Nerven, davon können sie ein Liedchen singen. Das ganze Gepäck, zwei Rollstühle, ein Hund, alles muss in kürzester Zeit in den Zug gehievt werden.

Aber beim Aufzählen von einigen Episoden wie Lungenentzündungen, Spitalaufenthalten oder rausgeschlagenen Zähnen ist auch immer eine Prise Humor dabei. All diese Geschichten haben diese vier Personen zusammenwachsen lassen. «Die schönen Dinge, die wir zusammen erleben, kann uns niemand mehr nehmen», da sind sich alle einig. Und Rico Cia fügt an: «Bei uns wird nichts verschoben, wir machen es jetzt. Wenn ich manchmal höre, um was sich Leute alles sorgen können, dann denke ich: Was habt ihr für Probleme?»

Doch auch der Tod ist bei Familie Cia ein Thema. Als die Grossmutter vor einiger Zeit starb, meinte Priska: «Mami, es isch schön, dass s’Grossmami jetzt im Himmel isch. Denn chan ich denn emol zu ihre ga.» Für Rico und Karin ist klar: Sie möchten ihre Kinder so lange wie möglich zu Hause betreuen und für sie Sorgen. Die Eltern haben sich aber auch schon überlegt, was wäre, wenn sie vor den Kindern sterben würden. «Es wäre ganz schlimm für uns, wenn wir eines Tages Priska und Cornelia alleine zurücklassen müssten.»

Heidi Peruzzo