Lotti Latrous, wie kamen Sie auf die Idee, eine Autobiografie zu schreiben?
Gabriella Baumann-von Arx hat einen Fernsehbericht über mich gesehen und wollte ein Buch über mich schreiben. Das war 2002. Ich habe abgelehnt, weil ich irgendwann selber ein Buch schreiben wollte.Ich habe mich dann überreden lassen, und Gabriella hat drei Bücher über mich geschrieben. Als sie mich im vergangenen Jahr besucht hat, meinte sie: «Anstatt dass du mir alles erzählst, kannst du ja selber ein Buch schreiben.»
Was wollen Sie mit Ihrem Buch bewirken?
Ich möchte Danke sagen für die Unterstützung, die wir seit 20 Jahren erhalten. Zudem möchte ich den Leuten aufzeigen, welch Glück man hat, in der schönen Schweiz geboren worden zu sein.
Ein Teil Ihres Buches ist an einem ganz besonderen Ort entstanden. Sie nennen es «Paradies».
Eine meiner Angestellten, Valérie, fuhr praktisch jedes Wochenende weg und kam am Sonntagabend glücklich zurück. Als ich ihr erzählte, dass ich einen Ort suche, um in Ruhe an meinem Buch schreiben zu können, brachte mich Valérie zu den Nonnen in den Busch. So hatte ich vier Tage lang Ruhe: kein Handy, kein Internet, kein Lärm, nur zwitschernde Vögel und zirpende Grillen. Und so stelle ich mir das Paradies vor.
Würden Sie das Leben, das Sie führen, anderen Leuten empfehlen?
Das kann man niemandem empfehlen. Ein solches Leben bekommt man geschenkt. Und darüber bin ich sehr dankbar. Es ist ja schon ein etwas verrücktes Leben, und die meisten würden es vielleicht ein, zwei Jahre aushalten. Wenn man es aber für den Lebenssinn braucht, dann hält man es ein Leben lang aus. Viele Junge, die an meine Vorträge kommen, wollten sich ein Bild vor Ort machen. Aber ich glaube, ein junger Mensch kann nicht in einem Slum leben und täglich mit dem Leiden und Sterben der Kinder konfrontiert sein.
Sie haben im Mutter Teresa Spital in Abidjan gearbeitet. Wenn man Sie selbst als «Mutter Teresa der Schweiz» betitelt, weisen Sie das vehement von sich. Warum?
In erster Linie, weil ich keine katholische Nonne bin, sondern Ehefrau und Mutter dreier Kinder. Zudem gibt es für mich nicht nur die christliche Religion. Bei uns werden Moslems, Christen und Atheisten gleich behandelt und respektiert.
Sie werden von vielen Menschen bewundert. Sehen Sie sich als Vorbild?
Nein, überhaupt nicht. Diese Arbeit ist meine Berufung. Ich will keine Bewunderung. Wofür auch? Für etwas, das mein Lebenssinn ist? Wenn ich das nicht mehr machen könnte, würde ich eingehen wie eine Blume ohne Wasser. Und ich verdiene auch keine Bewunderung, weil meine Familie wegen mir gelitten hat.
Ihr Mann hat eine internationale Karriere bei Nestlé gemacht und viel Geld verdient. Warum haben Sie sich gegen das privilegierte -Leben entschieden?
Es entspricht nicht meinem Naturell, die Frau eines Direktoren zu spielen, die sich bedienen lässt. Als wir in Saudi-Arabien waren, hatten wir zwei kleine Kinder, und ich habe den Haushalt selbst gemacht. Dann zogen wir nach Nigeria. Wir wohnten 50 Kilometer von Lagos entfernt, wo die Kinder zur Schule gingen. Weil ich in den fünf Stunden nicht nach Hause zurückkehren konnte, musste ich die Zeit überbrücken. Deshalb habe ich begonnen, in einem Waisenhaus zu arbeiten. Nach sieben Jahren in Nigeria gingen wir nach Kairo. Dort half ich in einem Altersheim. Ein paar Jahre später zogen wir nach Abidjan, wo ich im Mutter Teresa Spital gearbeitet habe und dann von einem Arzt in die Slums gebracht wurde.
Und dort sahen Sie das Elend der Menschen …
Das Schicksal dieser Menschen lässt sich fast nicht beschreiben. Da lagen Menschen auf dem Boden, abgemagert, in ihrem eigenen Durchfall. Der Gestank, die Hitze, die Fliegen. Viele wurden von ihren Familien ausgestossen, da sie an «la maladie» – also Aids litten. Ich sagte zu meinem Mann, dass wir etwas bauen müssen, um diese Menschen aufzunehmen und in den Tod begleiten zu können. Zusammen mit dem Schweizer Botschafter gingen wir dann auf die Gemeinde und erhielten 500 Quadratmeter Land. Dort stellten wir ausrangierte Schiffscontainer auf. So hatten wir ein Büro und zwei Zimmer mit je drei Betten. Ich sammelte die Menschen am Boden auf, legte sie in ein sauberes Bett und begleitete sie in den Tod. Wir haben das Ambulatorium stetig um- und ausgebaut, später kamen dann ein Sterbespital und ein Waisenhaus hinzu.
Das erwähnte Ambulatorium wurde 1999, also vor 20 Jahren, gebaut. Wie hat sich das Leben in der Elfenbeinküste respektive in den Slums verändert?
Seit es Medikamente gegen Aids gibt, hat sich alles verändert. Heute müssen wir nicht mehr helfen, zu sterben, sondern dürfen helfen, zu leben. Inzwischen haben wir in unserem Ambulatorium 5500 Patienten, die behandelt werden. Die Armut ist nach wie vor da, aber Aids kann jetzt behandelt werden. Wir schulen auch jedes Jahr 800 Kinder ein, damit diese eine Zukunft haben und einen Beruf erlernen können. Im Waisenhaus leben mittlerweile 42 Kinder.
Wie war es für Ihre Kinder, ständig den Wohnort wechseln und sich immer neu orientieren zu müssen?
Darüber haben wir oft gesprochen. Sie hatten ja kein richtiges Heimatland, aber sie meinten: «Wir haben eine Heimatfamilie. Wir haben eine Mutter, einen Vater und Geschwister.» Ausserdem wussten sie ja nicht, dass man das ganze Leben lang im gleichen Land wohnen kann. Für meinen Mann war es nicht schlimm, er ging ja arbeiten. Aber ich habe mich ab und zu entwurzelt gefühlt. Kaum habe ich mich eingelebt und Kontakte geknüpft, sind wir wieder weggezogen. Viele Leute meinen, wir Expats-Frauen hätten ein schönes Leben, weil wir eine Villa, einen Pool und Angestellte haben. Aber das allein macht das Glück nicht aus. Denn es ist ein leeres Leben.
Kurz nachdem das Ambulatorium eingeweiht war, zog Ihr Mann mit den Kindern nach Kairo zurück. Sie blieben in der Elfenbeinküste. Ihre jüngste Tochter war damals neun Jahre alt. Viele Ehen wäre daran zerbrochen. Wa-rum Ihre nicht?
Das ist eine gute Frage. Liebe, Respekt, Toleranz und Nächstenliebe – was wir unseren Kindern mitgegeben haben, haben wir auch vorgelebt. Vielleicht auch, weil man Mann sich dafür bedanken wollte, dass ich für ihn auf meine Ausbildung verzichtet habe. Eigentlich wollte ich zwei Monate in Kairo und zwei Monate in Adjouffou leben. Aber die Situation machte mich nicht wirklich glücklich. Deshalb hat mich meine Familie ziehen lassen und ich ging sie alle paar Monate besuchen.
In den letzten Jahren wurde es ruhiger um Sie. Was haben Sie gemacht?
2007 habe ich mir eine Tuberkulose aufgelesen. Weil diese Krankheit in der Elfenbeinküste gängig ist, konnte man sie dort besser heilen als in der Schweiz. Deshalb bin ich geblieben. 2013 hat mich eine langjährige Mitarbeiterin bestohlen, und ich musste ihr kündigen. Zur gleichen Zeit hatte ich 50 Angestellte, und ein Arzt riet mir, eine Gewerkschaft zu gründen. Ich wurde aber vor ihm gewarnt und habe ihn dann auch entlassen. Er ging vor Gericht, verlor aber. Danach habe ich drei Wochen lang jeden Tag mehrere Morddrohungen auf mein Handy erhalten. So erlitt ich eine Erschöpfungsdepression. Mein Mann war mittlerweile pensioniert, und so kehrten wir in die Schweiz zurück, damit ich meine Lunge auskurieren konnte. Körperlich ging es mir dann nach ein paar Monaten wieder besser, aber meine Seele schrie nach meinem Werk. Am 31. Dezember 2013 bin ich dann wieder nach Afrika geflogen.
Und wie sieht Ihr Leben heute aus?
2017 haben wir in Grand-Bassam ein rund 5000 Quadratmeter grosses Zentrum gebaut, da der Slum in Adjouffou geräumt wurde. Heute leben wir zwei Monate in Genf und zwei Monate in Grand-Bassam.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Das ist zwar utopisch, aber ich wünsche mir Frieden auf der Welt. Wenn die Gier nach Macht und Reichtum nicht wäre, könnte man gut nebeneinander und miteinander leben. Dann könnten alle Menschen würdevoll leben, und kein Kind müsste mehr Hunger leiden oder an Malaria sterben. Ich habe mein eigenes Leben so gestaltet, wie ich es mir wünsche.
Mein Projekt ist für mich wie eine Insel: ein friedliches Miteinander von moslemischen und christlichen Kindern. Ich verstehe nicht, warum man sich bekriegen muss.
Lotti Latrous geht auf Lesetour, unter anderem am 23. Januar im Hotel Marina in Lachen. Weitere Infos unter www.lesetour.ch.