Kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes im Jahr 2001 änderte sich das Leben der Familie Diethelm aus Siebnen schlagartig. Noch im Gebärsaal verspürte Ruedi Diethelm Herzrhythmus-Störungen und wurde auf die Intensivstation gebracht. Herzinfarkt war die Diagnose, der frischgebackene Vater wurde sofort nach Zürich verlegt. Die junge Mutter besuchte, selbst noch im Wochenbett, so oft sich die Gelegenheit ergab, ihren Mann im Unispital. Familienglück hätte anders ausgesehen, die Sorge um Ehemann und Vater war von nun an stets präsent.
Es geht stetig bergab
Beim Herzinfarkt war ein Teil des Herzens abgestorben und eine Herzmuskelschwäche entstand. Ruedi Diethelm bekam einen Herzschrittmacher mit Defibrillator (ICD) und arbeitete anfangs noch 70 Prozent als Pöstler in Siebnen. Kontinuierlich reduzierte er sein Pensum auf 20 Prozent, mehr war nicht mehr möglich.
Es sollte aber noch schlimmer kommen: «Eines Tages war ich mit meinen beiden Jungs unterwegs an der Lachner Fasnacht mit den Grüblerhexen. Als ich abends im Bett lag, erlitt ich über 20 Stromstösse direkt ins Herz», erzählt Diethelm. Sogar Ehefrau Vreni verspürte die starken Stösse neben dem Bett. Von diesem Moment an konnte der Herzpatient nicht mehr arbeiten. Ihm wurden 100 Prozent IV-Ergänzungen zugesprochen. Das kranke Herz arbeitete immer weniger, 2016 wurde noch eine Leistung von weniger als 15 Prozent gemessen. Der Siebner wurde auf die Warteliste für eine Organspende gesetzt.
Immer wieder Abschied nehmen
Der Gesundheitszustand verschlechterte sich, zusätzlich versagten auch seine Nieren. Ruedi Diethelm musste sich einer Verödung am Herzen unterziehen, die sehr riskant war. Die Operation missglückte. Er musste an die Herz- und Lungenmaschine angeschlossen werden und für eine gewisse Zeit ins künstliche Koma versetzt. «Ich kann mich erinnern, dass ich in diesem Zustand träumte. Ich war gefangen in einer Zwischenwelt und konnte nicht mehr raus.»
Vreni Diethelms Schwester, welche als Diplomierte Pflegefachfrau arbeitet, unterstützte die Familie so oft sie konnte. Viel Hoffnung machte sie ihrer Schwester aber nicht. «Nimm Abschied, so wie es aussieht, überlebt er das nicht», riet sie. Der Herzpatient wurde vorübergehend von der Organ-Spenderliste genommen, sein Zustand war zu schlecht.
Um ihn am Leben zu halten, wurde ein Kunstherz eingesetzt. «Wir haben im Vorfeld schon die Möglichkeit eines Kunstherz-Einsatzes besprochen», erinnert sich Vreni Diethelm. «Wir haben aber gehofft, dass bei Ruedi eine kleinere Variante eingesetzt wird. Die grosse Maschine ‹Excor› mit den Blutpumpen und Schläuchen, welche aus dem Bauchraum ragen, war für uns anfangs ein Schock. Dieses Kunstherz hörte sich wie eine laufende Melkmaschine an, und das tagaus, tagein.»
Die nächsten sieben Monate waren für die ganze Familie die schwierigste Zeit in ihrem Leben. «Im Nachhinein weiss ich nicht mehr, wie ich das alles bewältigen konnte», so die Ehefrau. «Ich funktionierte einfach. Dreimal in der Woche musste mein Mann in die Dialyse nach Lachen, die Blutpumpen mussten regelmässig überprüft werden und er brauchte eine 24-Stunden-Überwachung. Für den Notfall – falls das Kunstherz nicht funktioniert hätte – gab es eine Handpumpe, die zum Einsatz gekommen wäre.
Komplikation um Komplikation
«Ja, die Zeit mit dem Kunstherz war sehr schwierig. Ich hatte alles erlebt, was es an Komplikationen geben kann», erzählt auch der Patient. Beim Aufenthalt im Spital setzte eine Blutpumpe aus, der Alarm wurde ausgelöst. Zum Glück waren der zuständige Professor und ein Techniker für das Kunstherz im Haus, eine Notoperation erfolgte gleich auf dem Patientenzimmer. «Diesen Vorfall überlebte ich nur, weil mein eigenes Herz noch ganz wenig schlug», erinnert sich Diethelm. Als er wieder zu sich kam, nahm er wahr, dass ein Arzt auf seinem Oberkörper kniete und sein Herz massierte. Unten wurden die Pumpe ausgetauscht. Ehefrau Vreni war zu Hause und bekam von der Notoperation nichts mit. Das Spital hatte vergessen, sie zu benachrichtigen. Erst am Abend, als sie zu Besuch wollte, erfuhr sie, dass er auf der Intensivstation lag.
Die Lebensdauer eines Kunstherzes ist begrenzt. Als sich sein Gesundheitszustand stabilisierte, kam Ruedi Diethelm wieder auf die Spender-Liste. Diesmal an oberster Stelle.
Hoffnung, Panik und Abschied
Von da an ging das Warten los. Die beiden erlebten eine sehr angespannte Zeit. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, zuckten sie zusammen. Am 10. Mai 2017 war es endlich soweit: Das sehnlichst erwartete Telefon von Swisstransplant kam. Die beiden waren an diesem Morgen unterwegs zu einem Zahnarzttermin. Ruedi Diethelm nahm das Telefon ab und seine Frau sah ihm gleich an, dass es Ernst wurde. Ein passendes Herz und vom selben Spender eine Niere waren für die Transplantation bereit.
Zu Hause blieb noch kurz Zeit, um Abschied zu nehmen und ein Erinnerungsfoto zu machen. Im Fotoalbum, welches die beiden kürzlich zum Verarbeiten ihres Schicksals gemacht haben, steht unter diesem letzten Bild: «Wird es das letzte Mal sein, dass ich Ruedi lebend sehe? Eine sehr spezielle Situation mit Gefühlen, die unbeschreiblich sind. Hoffnung, Angst, Freude, Panik, abwechselnd im Sekundentakt! Eine Stunde blieb uns nach dem Telefonat aus Zürich, bis Swisstransplant bei uns war.»
Und dann war ihr Ruedi weg. Sie weiss nur noch, dass sie sich nach dem Abschied um ihre Balkonkistli kümmerte, frische Blumen setzte und an nichts anderes denken wollte.
Das zweite Leben beginnt
Während der Fahrt ins Unispital war der Patient sehr angespannt. Zunächst erfolgten Untersuchungen und Vorbereitungen, dann wurde er auf die Dialyse gebracht. «Ich war plötzlich erstaunlich ruhig, wahrscheinlich bekam ich bereits entsprechende Medikamente», erinnert er sich. Er wurde in den Operationssaal geschoben und hörte noch die Worte: «Jetzt geht’s los.» Die Herztransplantation verlief sehr gut. Daher entschieden sich die zuständigen Ärzte, auch noch die Niere vom gleichen Spender zu transplantieren.
Nach vier Tagen konnte Diethelm bereits wieder aufstehen und seine Liebsten in den Arm nehmen. Von da an ging es stetig aufwärts. Das Herz und die Niere wurden sehr gut angenommen. Er hatte vom ersten Moment an ein gutes Gefühl und Vertrauen zu den neuen Organen. Nach sieben Wochen durfte der Patient wieder nach Hause. «Es war ein bewegender Moment, als ich zum ersten Mal auf Ruedis Brust lag und das neue Herz schlagen hörte», schildert Vreni Diethelm.
Ruedi Diethelm wurde mal gefragt, ob sich seine Gefühle für seine Ehefrau mit dem neuen Herzen verändert hätten. «Die Gefühle haben sich nicht verändert, das ist nicht vom Herzen abhängig. Jedoch hat mich die ganze Krankheitsgeschichte verändert.»
«Wer war wohl der Spender?»
Das Herz gehörte wahrscheinlich einem jüngeren Menschen, ob Frau oder Mann, ist nicht bekannt. Dem Organspender ist die Familie unendlich dankbar. Vreni Diethelm war es ein Anliegen, sich persönlich bei den Angehörigen des Spenders mit einem Brief zu bedanken. Diesen Brief schickte sie an die Stiftung Swisstransplant, welche ihn anonym weiterleitete. Auf diesem Weg wäre auch eine Antwort von den Angehörigen des Spenders möglich. Bis jetzt hat die Familie Diethelm jedoch noch nichts gehört.
Die beiden hätten nie geglaubt, dass alles wieder so gut kommen wird. Es ist ein Wunder! Heute kann Ruedi Diethelm sogar wieder wandern gehen. «Als ich zum ersten Mal wieder auf dem Stöckli Chrüz stand, kamen mir die Tränen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das wohl nur jemand nachvollziehen kann, der etwas Ähnliches erlebt hat», schildert der Mann mit dem neuen Herz. «Meine Lebenssituation hat sich um 1000 Prozent verbessert, ich habe ein zweites Leben geschenkt bekommen.»
Neue Sorgen künden sich an
Die Lebensdauer einer Niere beträgt acht bis 15 Jahre. Beim Herz sind es 15 bis 20 Jahre. «Manchmal beschleichen mich schon wieder neue Sorgen», erzählt Vreni Diethelm. «Was kommt wohl noch alles auf uns zu? Wie viel können wir noch verkraften? Zurzeit gilt aber nach wie vor, die neu gewonnene Lebensqualität in vollen Zügen zu geniessen. Den eines haben wir gelernt: Gesundheit bedeutet Freiheit!»
Ruedi Diethelm plagen andere Sorgen. Kürzlich hat sich die IV bei ihm gemeldet und ärztliche Abklärungen über seinen Gesundheitszustand verlangt. «Theoretisch würde ich gerne wieder arbeiten», so Diethelm. Aber was für eine Art von Arbeit könnte der 53-Jährige noch erledigen, ohne sich zu grossen Stress zuzumuten? «Ich schaue meinem geschenkten Herzen gut, brauche viel Erholung und gebe meinem Körper alles, was ihm guttut.» Sehr wichtig ist eine angepasste Ernährung. Durchfall wäre schlecht, weil dann die Wirkung der Medikamente zu schwach ist und die Gefahr einer Abstossung besteht. Die Psyche hat in all den schweren und belastenden Jahren ebenfalls gelitten, die Angst vor einem Rückfall sitzt tief.
«Ja, wir könnten wohl ein Buch schreiben über das, was wir alles erlebt haben», sagt das Ehepaar. Auf der Rückseite ihres Fotobuches steht ein Satz, welcher für alle Menschen Gültigkeit hätte: «Das Leben ist ein Geschenk. Mach Dir das jeden Morgen bewusst, wenn Du aufwachst.»