«Zu 99 Prozent normal»
Roland Studer ist übrigens keiner, der nur ansatzweise irgendwelchen Frust an den Tag legt. Vielmehr sprüht er vor Energie während seiner Erzählungen, die spannend, aufwühlend, aber auch zum Schmunzeln sind. Fast 60 Jahre lang hatte er ein Sehvermögen von knapp zehn bis fünfzehn Prozent. «Ich profitiere davon, dass ich über ein räumliches Denken verfüge.» Der Prozess war schleichend. «Ich wusste, dass es eines Tages soweit ist und ich gar nichts mehr sehe. Ich konnte mich darauf vorbereiten.» Roland Studer haderte nicht mit dem Schicksal, sondern war mit dieser Lebensaufgabe bereits vertraut und nahm auch das höchste Level dieser Challenge an. «Viele, gerade solche, die zum Beispiel durch einen Unfall unmittelbar erblinden, leiden derart darunter, dass sie nicht mehr leben möchten», kennt er ähnliche Situationen aus dem Umfeld. Man muss stark genug sein, um ein völlig neues Leben in Angriff zu nehmen. «Ich bin eigentlich wie du, nur dass ich nichts sehe. Ich bin sozusagen 99 Prozent normal», schmunzelt er. Dafür nutzt er seine anderen Sinne bewusster, nimmt Geräusche und Geschmäcker intensiver wahr. Roland Studers mentale Stärke nutzt er schon länger, indem er sich engagiert. Seit 2021 präsidiert Studer den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband «SBV» und ist vor wenigen Tagen von einer internationalen Versammlung aus Madrid zurückgekehrt. «Es lief alles perfekt, es gab keine Komplikationen, entgegnet er zufrieden. Seit 1911 unterstützt der Verband Menschen, die sehbeeinträchtigt oder blind sind. «Die nationalen Blinden- und Sehbehindertenverbände treffen sich auch auf internationaler Ebene um ihre Arbeiten zu koordinieren. Solidarität wird auch innerhalb der Verbände gelebt, und finanzschwächere Länder werden unterstützt, damit diese auch an den Treffen teilnehmen können.» Studer fügt hinzu: «Wir planen, eines der nächsten Gipfeltreffen nach Schaffhausen zu holen.»
Moderne Technik – ein Segen
Wir sitzen beim Kaffee. Wie orientiert er sich, wo sein Getränk steht? «Perfekt wäre, wenn das Personal mitteilt, dass es zum Beispiel auf 9 Uhr aus meiner Perspektive steht.» Ansonsten tastet Roland Studer den Bereich ab, bis er das Gefäss greifen kann. «Steht dann etwas anderes im Weg, ist es durchaus möglich, dass ich es aus Versehen umstosse», lobt jedoch, dass er meistens positive Erfahrungen mache. Überhaupt habe sich sehr vieles in den letzten Jahren verbessert. Die moderne Technik ist nicht nur für Studer essenziell. «Ich habe auf meinem Smartphone diverse Apps installiert, die mich ungemein unterstützen.» Als wir darüber sprechen, was passiert, wenn plötzlich mal die Orientierung fehlt, entgegnet er, dass er sich auf einer Karten-App orten kann. «Oder ich mache ein Foto und lasse eine andere App mir erklären, was darauf zu sehen ist», und knipst als Test gleich einen solchen Schnappschuss. In der Tat entgeht der erklärenden Stimme kein Detail. Beeindruckend und für rund 400 000 Sehbehinderte in der Schweiz, davon über 50 000 blinde Menschen, ein Segen. «Mein Handy ist mein treuer Begleiter. Es navigiert mich, es orientiert mich, es erleichtert mein Leben.»
Die Sache mit der Ampel
Roland Studer führt uns an einen weiteren Punkt. Ziel ist die Ampelanlage auf Höhe Bachstrasse/Pestalozzistrasse, deren Fussgängerstreifen mitunter vom Schülerstrom genutzt wird. Meistens ist die Ampel auf «gelb» gestellt, um den Verkehr flüssig zu halten. Für Studer ist klar, dass er den Weissen Langstock mit ausgestreckter Hand herausstreckt, um damit anzudeuten, dass er die Strasse überqueren will. Dieses Zeichen müssen alle Automobilisten kennen. Denn der Summer auf dem Anforderungstaster ist während der Gelbphase deaktiviert. Würde ja auch nichts bringen. «Eigentlich macht diese Ampel gar keinen Sinn, sie ist sogar eine Gefahr, die könnte man auch entfernen», warnt er. «Doch wenn beispielsweise die Autobahn gesperrt ist und aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens plötzlich die Ampel aktiviert wird, bekommen wir das nicht mit.» Wünschenswert wäre etwa eine Warnmeldung oder dass die Ampel generell eingeschaltet bleibt, damit auch der Summer den Dienst als echte Orientierungshilfe wahrnehmen kann. Er habe seit Jahren schon auf potenzielle Gefahren hingewiesen, doch offenbar scheint Studer auf Granit zu stossen, denn sowohl von politischer als auch von der verwaltungstechnischen Seite wird er stets vertröstet.
In den Alltag integrieren
«Die Menschen nehmen auf der Strasse normalerweise schon Rücksicht oder fragen auch mal, ob sie helfen können», fasst Roland Studer ein grundsätzlich positives Fazit. «Und wenn die Leute unterwegs mit dem Handy beschäftigt sind, dann prallen wir halt auch mal zusammen», lächelt er, zwar etwas schwermütig. «Das gibt’s halt.» Die Aktionstage im Mai und Juni, die vermehrte Sichtbarkeit durch Zukunft Inklusion, seien bedeutend gewesen. «Wichtig ist», mahnt Roland Studer, «dass das nicht eine einmalige Sache bleibt, sondern durch weitere Projekte in den Alltag integriert wird.» Wie eben auch der internationale Tag des weissen Stockes. Jeder Mensch, der trotz eines Handicaps ein selbständiges Leben führen kann, soll keine zusätzlichen Barrieren erfahren müssen. «Das erfahren die Menschen am meisten, wenn sie selbst eine Verletzung haben und aufgrund der eingeschränkten Mobilität plötzlich vor Hürden stehen, die zuvor immer selbstverständlich gewesen sind.» Dem Wunsch nach uneingeschränkter Barrierefreiheit für alle Beeinträchtigungen geht Studer weiterhin mit vollem Engagement und Herzblut nach. Gibt es für ihn einen perfekten Moment? «Perfekt wäre, wenn es den SBV und mich nicht mehr brauchen würde», sagt er, im Wissen, dass trotz erheblicher Fortschritte in diesem Jahrtausend das Ziel der endgültigen Barrierefreiheit noch lange nicht erreicht ist.