Generell sind weltliche Silberobjekte aus gotischer Zeit selten im Original erhalten und uns häufig nur durch Bildquellen überliefert. Der spektakuläre Doppelpokal - in der Fachsprache auch Doppelscheuer oder Doppelkopf genannt - setzt sich aus vier Einzelteilen zusammen:
- einem Fuss
- einem Gefäss mit seitlich angesetztem Henkel
- einem Deckel, der ebenfalls als Trinkschale zu verwenden ist
- sowie einem Deckelaufsatz in Gestalt einer Stadtmauer, der als Fuss der Trinkschale dient.
Es handelt sich demzufolge um einen doppelten Trinkbecher - einen oben, der andere unten
Um auszuschliessen, dass es sich beim Kunstwerk um eine Goldschmiedearbeit des 19. oder 20. Jahrhunderts handelt - also um eine Nachbildung einer mittelalterlichen Vorlage - wurde bei der Eidgenössischen Materialprüfungskommission in Dübendorf (EMPA) eine Materialanalyse durchgeführt und die chemische Zusammensetzung der Silberlegierung untersucht. Die Analysen ergaben, dass die Spurenelement-Konzentrationen den Werten entsprechen, die normalerweise in Silberlegierungen vor 1800 - also in mittelalterlichen Objekten - gefunden werden.
Der qualitätsvoll gearbeitete Doppelkopf ist ein äusserst bedeutendes Zeugnis der mittelalterlichen Kultur Schaffhausens und der Schweiz. Und zwar sowohl betreffend der Trinkkultur als auch der Fähigkeiten mittelalterlicher Gold- und Silberschmiede. Es darf als Glücksfall bezeichnet werden, dass es der Sturzenegger-Stiftung gelang, dieses Stück in die Schweiz zurückzuführen.
Herkunft des Doppelpokals
Erfreulicherweise lässt sich der Weg des Doppelpokals durch die Wirren der Geschichte ausserordentlich gut nachverfolgen. Aufgrund seiner Gestaltung und Formensprache ist der Doppelkopf in der Zeit um 1500 entstanden, vielleicht in Schaffhausen. Solche Doppelköpfe waren vor allem im süddeutschen Raum und in der nördlichen Schweiz beliebt. Im 16. Jahrhundert tauchen in den Rechnungsbüchern und Ratsprotokollen der Stadt Schaffhausen immer wieder Einträge betreffend Reparaturen des - wie es dort heisst - «grossen Kopfes» auf. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts befindet sich der Doppelpokal im Besitz des Allerheiligen-Amtes in Schaffhausen. Blicken wir auf dem Deckel in den Zinnenkranz, so ist links das Standeswappen Schaffhausen zu erkennen, rechts das Klosterwappen und darüber angeordnet die Datierung 1607.
1843 wird das Stück von den Schaffhauser Behörden verkauft, da sie es als «unbedeutend und durchaus entbehrlich» einschätzen, und offensichtlich Geld benötigten. Eine Zeichnung des Schaffhauser Hans Wilhelm Harder (1810 - 1872) überliefert uns den damaligen Zustand der Goldschmiedearbeit. Den Zuschlag erhält ein Händler aus der benachbarten, badischen Gemeinde Gailingen. Im Jahr 1880 taucht das Stück in einer englischen Kirche wieder auf. Der amerikanische Bankier und Kunstsammler John Pierpont Morgen (1837 - 1913) erwirbt das Trinkgefäss, vermutlich über den Frankfurter Kunsthändler Julius Goldschmidt (1858 - 1932). Aus der Pierpont Morgen Sammlung gelangt der Doppelkopf 1945 in den Besitz des französischer Kunst- und Antiquitätenhändlers Jaques Helft (1891 - 1980). Er verkauft das Stück 1956 an einen Privatsammler in Südamerika.
Dank dem grosszügigen Engagement der Sturzenegger Stiftung kehrt das Kunstwerk nun wohlbehalten nach Schaffhausen zurück und findet in der Dauerausstellung des Museums zu Allerheiligen einen würdevollen Auftritt.
Funktion des Doppelpokals
Über eine der Verwendungszwecke des Doppelpokals gibt uns ein Verzeichnis in den Schaffhauser Archiven Aufschluss. Im Jahre 1705 wird das Gefäss im «Inventarium und Beschreibung über dess Klosters Allerheiligen legend und fahrender Haab und Gütheren» als «Bächer, worinnen der Wein an die Hochzeiten verehrt würt» erwähnt. In diesem doppelten Trinkbecher wurde demzufolge einem Brautpaar und deren Gästen der zeremonielle Hochzeitstrunk gereicht. Die übereinander und ineinander gesteckten Becher (einen für die Frau, der andere für den Mann) boten den Zeitgenossen offenbar ein treffendes Sinnbild der ehelichen Verbindung.
Eine weitere Funktion könnte dem Doppelkopf auch beim Brauch des sogenannten «Minnetrinkens» zugekommen sein. Dabei wurde an bestimmten Feiertagen zu Ehren des jeweiligen Heiligen geweihter Wein zum Trinken gereicht. Da dieser Trank demensprechend wundertätig wirken konnte, erfreute sich der Brauch grosser Beliebtheit. Unbestritten ist und bleibt die repräsentative Wirkung dieses eindrücklichen und grossen Trinkgefässes. Somit darf auch von einer Verwendung bei offiziellen, obrigkeitlichen Empfängen und Festen ausgegangen werden. Im Schaffhauser Stadtbild findet sich an prominenter Stelle und für alle gut sichtbar ein vergleichbarer Doppelkopf: gehalten durch einen der drei heiligen Könige auf der Brunnensäule auf dem Fronwaagplatz. Die Originalfigur aus dem 16. Jahrhundert steht heute in der Eingangshalle des Museums.
Sturzenegger-Stiftung Schaffhausen
Die Sturzenegger-Stiftung sammelt Kunstwerke und historische Objekte sowie Handschriften, alte Drucke und digitale Produkte, die für Stadt und Region Schaffhausen von Bedeutung sind. Die Sammlung steht dem Museum zu Allerheiligen und der Stadtbibliothek Schaffhausen als Dauerleihgabe zur Verfügung. Weiter gewährleistet die Stiftung auch den Unterhalt (Restaurierung, Betreuung, Erschliessung) und die Präsentation der Objekte. Damit unterstützt sie in enger Zusammenarbeit die Aufgaben des Museums und der Stadtbibliothek, indem sie Ausstellungen, Projekte, wissenschaftliche Bearbeitungen und Publikationen ermöglicht.