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Schweiz
12.09.2023
12.09.2023 22:33 Uhr

Weggeschaut: Bischöfe in der Kritik

Bild: KEYSTONE
Eine Pilotuntersuchung der Universität Zürich deckt über 1000 Fälle des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche auf. Viele davon wurden systematisch vertuscht.

Erstmals wurde einem unabhängigen Forschungsteam ermöglicht, in kirchlichen Archiven Akten über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche einzusehen.

Die Historiker der Universität Zürich belegen 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs, die katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige seit Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz begangen haben. Sie untersuchten zudem den Umgang katholischer Würdenträger mit Fällen sexuellen Missbrauchs sowie die Verfügbarkeit und Aussagekraft der Quellenbestände. Damit ist die Basis für weitere Forschung gelegt, wie es am Dienstag in einer Medienmitteilung heisst. 

Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz (KOVOS) und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) haben das Historische Seminar der Universität Zürich damit beauftragt, sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu erforschen.

Tausende geheime Akten gesichtet

In einer einjährigen Pilotstudie hat ein vierköpfiges Forschungsteam unter der Leitung der Professorinnen Monika Dommann und Marietta Meier die Thematik untersucht. Einbezogen wurden nicht nur sämtliche Diözesen in allen Sprachregionen der Schweiz, sondern auch die staatskirchenrechtlichen Strukturen und die Ordensgemeinschaften. Damit wurde die katholische Kirche in der Schweiz als Ganzes in den Blick genommen.

Bis auf einige Ausnahmen wurden dem Projektteam die notwendigen Zugänge zu den Archiven ohne grössere Hürden ermöglicht. So konnten zehntausende Seiten bisher geheim gehaltener Akten gesichtet werden, die von Verantwortlichen der katholischen Kirche seit Mitte des 20. Jahrhunderts angelegt wurden. Zudem wurden zahlreiche Gespräche mit von sexuellem Missbrauch Betroffenen und weiteren Personen geführt.

«Nur die Spitze des Eisberges»

Das Forschungsteam hat Belege für ein grosses Spektrum an Fällen sexuellen Missbrauchs gefunden – von problematischen Grenzüberschreitungen bis hin zu schwersten, systematischen Missbräuchen, die über Jahre hinweg andauerten. Insgesamt wurden 1002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene identifiziert. In 39 Prozent der Fälle war die betroffene Person weiblichen Geschlechts, in knapp 56 Prozent männlich. Bei 5 Prozent liess sich das Geschlecht in den Quellen nicht eindeutig feststellen. Die Beschuldigten waren bis auf wenige Ausnahmen Männer.

Von den Akten, die während des Pilotprojektes ausgewertet wurden, zeugten 74 Prozent von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen. 14 Prozent betrafen Erwachsene und in 12 Prozent der Fälle war das Alter nicht eindeutig feststellbar.

«Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs», erklären Monika Dommann und Marietta Meier. Zahlreiche Archive, in denen weitere Fälle von Missbrauch dokumentiert sein dürften, konnten noch nicht ausgewertet werden, etwa Archive von Ordensgemeinschaften, Dokumente diözesaner Gremien und die Archivbestände katholischer Schulen, Internate und Heime sowie staatliche Archive. Die Vernichtung von Akten kann für zwei Diözesen belegt werden.

Darüber hinaus lässt sich beweisen, dass nicht alle Meldungen konsequent schriftlich festgehalten und archiviert wurden. «Angesichts der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung gehen wir davon aus, dass nur ein kleiner Teil der Fälle überhaupt jemals gemeldet wurde», so die Forscherinnen.

Systematische Vertuschung durch die Kirche

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist im Kirchenrecht seit langem ein schwerwiegender Straftatbestand. «In den ausgewerteten Fällen wurde das kirchliche Strafrecht aber über weite Strecken des Untersuchungszeitraums kaum angewandt. Stattdessen wurden zahlreiche Fälle verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert», so die Forscher.

Kirchliche Verantwortungsträger versetzten beschuldigte und überführte Kleriker systematisch, mitunter auch ins Ausland, um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden und einen weiteren Einsatz der Kleriker zu ermöglichen. Dabei wurden die Interessen der katholischen Kirche und ihrer Würdenträger über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern gestellt.

Ein grundsätzlicher Wandel dieses Vorgehens lässt sich erst im 21. Jahrhundert feststellen, als der Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen immer häufiger für Skandale sorgte. So erliess die Schweizer Bischofskonferenz nach der Jahrtausendwende Richtlinien zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs sowie zu deren Prävention und gründete diözesane Fachgremien, die sich mit gemeldeten Fällen befassen sollten. Diese Gremien weichen jedoch in ihrer Arbeitsweise bis heute deutlich voneinander ab und sind unterschiedlich stark professionalisiert.

St.Galler Bischof ebenfalls im Fokus

Im Fokus der Kritik stehen Bischöfe und Erzbischöfe aus der ganzen Schweiz, die Missbrauchstäter gewähren liessen und wegschauten. Auch Markus Büchel, Bischof in St.Gallen soll nicht richtig agiert haben. Konkret geht es um den Fall eines ehemaligen St.Galler Priesters: Er soll Heimkinder gezwungen haben, sich mit ihm ins Bett zu legen. Bischof Ivo Führer, Büchels Vorgänger, ignorierte diese Meldung. 2002 richtete das Bistum St.Gallen eine Meldestelle für Missbrauchsbetroffene ein und der Fall des Ex-Priesters wurde behandelt. 

Die Uni Zürich lobt das Bistum St.Gallen zwar dafür, doch bei der Umsetzung haperte es, wie der Fall zeigt. Das Fachgremium schlug Alarm und forderte Ivo Fürer mehrmals zum Handeln auf. Erst im Jahr 2012 versetzte Markus Büchel den ehemaligen Priester in ein Kloster, aber liess die Seelsorgetätigkeit des Priesters weiter zu. «Wir müssen heute feststellen, dass die Bistumsleitung keine der empfohlenen Massnahmen ergriffen hat», so die Uni Zürich.

Weitere Forschung notwendig

Das Pilotprojekt ist der erste systematische Versuch, sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz wissenschaftlich zu fassen und zu umreissen. Grundsätzliche Fragen des Archivzugangs, des Stands der Erforschung und Dokumentation von Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche sowie die bisherigen Bemühungen zu deren Aufarbeitung und Vermeidung sind nun geklärt. Damit ist eine Basis für weitere Forschung gelegt.

In zukünftigen Projekten müssen gemäss dem Forschungsteam weitere Archivbestände konsultiert und die Datenbasis ausgebaut werden. Auf diese Weise werden sich detailliertere Aussagen über die quantitative Dimension sexuellen Missbrauchs sowie zeitliche und geografische Häufungen machen lassen.

Zukünftig genauer untersucht werden sollte unter anderem die Mitverantwortung des Staates, vor allem im sozialkaritativen und pädagogischen Bereich, weil hier besonders in katholischen Gebieten oft Aufgaben an die Kirche delegiert wurden. Ein weiterer Fokus ist schliesslich auf die Frage nach den katholischen Spezifika zu legen, die sexuellen Missbrauch im Umfeld der Kirche allenfalls begünstigt haben.

Dazu gehören beispielsweise die Sexualmoral, der Zölibat, die Geschlechterbilder innerhalb der Kirche sowie ihr ambivalentes Verhältnis zur Homosexualität. Auch die Eigenheiten des katholischen Milieus, das die beschriebenen Dynamiken des Verschweigens und Verleugnens stillschweigend akzeptiert und teilweise unterstützt hat, sollten weiter erforscht werden. «Eine grosse Bedeutung wird dabei Aussagen und Berichten von Betroffenen sowie von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zukommen, die den kirchlichen Archivbeständen gegenüberzustellen sind», erklären die beiden Historikerinnen Dommann und Meier.

mik/stgallen24/rheintal24